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Boetticher, Nedopil, Bosinski, Saß: Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten NStZ 2005 Heft 2 57
Richter am BGH Dr. Axel Boetticher/Professor Dr. Norbert Nedopil/Professor Dr. Hartmut A.G. Bosinski/ Professor Dr. Henning Saß
Eine an forensisch-psychiatrischen Fragen besonders interessierte interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus Juristen, forensischen Psychiatern und Psychologen sowie Sexualmedizinern hat die nachfolgenden Empfehlungen für die forensische Schuldfähigkeitsbeurteilung nach §§ 20, 21 StGB erarbeitet.
Die Mitglieder der Arbeitsgruppe waren:
VRinBGH Dr. Rissing-van Saan, VRiBGH Nack, RiBGH Basdorf, RiBGH Dr. Bode, RiBGH Dr. Boetticher, RiBGH Dr. Detter, RiBGH Maatz, RiBGH Pfister, VRiBGH a.D.Dr. Schäfer, die Bundesanwälte Hannich und Altvater, der Kriminologe Prof. Dr. Schöch (München), der Rechtsanwalt Dr. Deckers (Düsseldorf), die forensischen Psychiater Prof. Dr. Berner (Hamburg), Prof. Dr. Dittmann (Basel), Prof. Dr. Foerster (Tübingen), Prof. Dr. Kröber (Berlin), Prof. Dr. Leygraf (Essen), Dr. Müller-Isberner (Gießen), Prof. Dr. Nedopil (München), Prof. Dr. Saß (Aachen), Dr. Habermeyer (Rostock), die Sexualmediziner Prof. Dr.Dr. Beier (Berlin), Prof. Dr. Bosinski (Kiel) und der Rechtspsychologe Prof. Dr. Köhnken (Kiel). A. Zweck der Empfehlungen
Die Empfehlungen der beteiligten forensischen Sachverständigen richten sich in erster Linie an deren Fachkollegen für die Erstattung von psychiatrischen Gutachten zur Frage der aufgehobenen oder verminderten Schuldfähigkeit. Hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die rechtliche Beurteilung haben sie die Zustimmung der Juristen gefunden. Die Empfehlungen sind keine rechtlichen Kriterien für die revisionsgerichtliche Überprüfung im Sinne verbindlicher Mindeststandards, deren Nichtbeachtung in jedem Einzelfall einen Rechtsfehler begründen kann. Dessenungeachtet finden die beteiligten Juristen es wünschenswert, wenn die Empfehlungen in der Rechtsprechung der 5 Strafsenate des BGH Berücksichtigung finden. Die Empfehlungen sollen dem forensischen Sachverständigen die fachgerechte Erstellung von Schuldfähigkeitsgutachten und den Verfahrensbeteiligten die Bewertung von deren Aussagekraft erleichtern. Sie können auch für die Auswahl des Sachverständigen nach §§ 73ff. StPO und für das Beweisrecht nach § 244 StPO herangezogen werden. Sie können bei der Entscheidung helfen, ob
Das Gesetz schreibt in bestimmten Fällen - u.a. wenn sich die Frage der Anordnung von freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung oder der Unterbringung zur Beobachtung stellt - die Hinzuziehung eines Sachverständigen vor. Im Übrigen kommt es auf die eigene Sachkunde des Richters an. Für die Beurteilung der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB reicht diese jedenfalls dann regelmäßig nicht mehr aus, wenn sich auf Grund von Auffälligkeiten oder gar Störungen Zweifel an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ergeben. Dann muss ein Sachverständiger hinzugezogen werden. Sachverständige sind Personen, die auf Grund besonderer Sachkenntnis über Tatsachen, Wahrnehmungen oder Erfahrungssätze Auskunft geben oder einen bestimmten Sachverhalt beurteilen können. Der Staatsanwalt oder der Richter hat die Tätigkeit des Sachverständigen zu leiten (§ 78 StPO). Die Leitung betrifft das, was der Sachverständige, nicht wie er es erforschen soll.
Die 5 Strafsenate des BGH haben schon früher für einzelne Bereiche der Schuldfähigkeitsbeurteilung Vorgaben der fachpsychiatrischen oder fachpsychologischen Wissenschaft übernommen und den Tatrichtern auferlegt, im Urteil die aus der Begutachtung gewonnenen Erkenntnisse darzulegen und ihre richterlichen Entscheidungen bei der ihnen obliegenden Beantwortung der Rechtsfragen zu begründen. Dies gilt u.a. für die Affektdelikte, die Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit bei Drogenabhängigen und den Umgang mit psychodiagnostischen Kriterien für das Leistungsverhalten bei Beurteilung einer unter
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Alkoholeinfluss begangenen Straftat1. Aus dieser Rechtsprechung und den Ergebnissen der interdisziplinären Arbeitsgruppe lassen sich die folgenden allgemeinen Grundsätze für forensische Schuldfähigkeitsgutachten ableiten:
1. Wahl der Untersuchungsmethode
Der Sachverständige bedient sich bei der Gutachtenerstattung methodischer Mittel, die dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand gerecht werden. Existieren mehrere anerkannte und indizierte Verfahren, so steht deren Auswahl in seinem pflichtgemäßen Ermessen. In diesem Rahmen steht dem Sachverständigen - vorbehaltlich der Sachleitungsbefugnis durch das Gericht - frei, wie er die maßgeblichen Informationen erhebt und welche Gesichtspunkte er für seine Bewertung für relevant hält.
2. Klassifikationssysteme
Die Juristen gehen auf Grund der interdisziplinären Diskussion davon aus, dass ein forensisch tätiger Sachverständiger bei der Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in der Regel nach den Kriterien der in der forensischen Psychiatrie gebräuchlichen diagnostischen und statistischen Klassifikationssysteme vorgeht (ICD-10 Kapitel V [F], Internationale Klassifikation psychischer Störungen, Dilling/Mombour/Schmidt [Hrsg.], 4. Aufl.; DSM-IV-TR, Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen Saß/Wittchen/Zaudig/Houben [Hrsg.], 2003).
3. Ausmaß der psychischen Störung
Gelangt der Sachverständige zu der Feststellung, dass das Störungsbild die Merkmale eines oder mehrerer Muster oder einer Mischform der Klassifikationen in ICD-10 oder DSM-IV-TR erfüllt, ist auch das Ausmaß der psychischen Störung und deren Auswirkung auf die Tat(en) zu bestimmen, die vom Sachverständigen auf Grund einer Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Beschuldigten, des Ausprägungsgrads der Störung und ihrer Auswirkung auf seine soziale Anpassungsfähigkeit ermittelt werden kann. Rechtlich besagt die Zuordnung eines Befundes zu einem in den Klassifikationen ICD-10 oder DSM-IV-TR noch nichts über das Ausmaß der psychischen Störungen und deren forensische Bedeutung. Allerdings weist eine solche Zuordnung in der Regel auf eine nicht ganz geringfügige Beeinträchtigung hin.
4. Nachvollziehbarkeit und Transparenz
Das Gutachten muß nachvollziehbar und transparent sein. Darin ist darzulegen, auf Grund welcher Anknüpfungstatsachen (Angaben des Probanden, Ermittlungsergebnisse, Vorgaben des Gerichts zum Sachverhalt und möglichen Tathandlungsvarianten), auf Grund welcher Untersuchungsmethoden und Denkmodelle der Sachverständige zu den von ihm gefundenen Ergebnissen gelangt ist.
5. Beweisgrundlagen des Gutachtens
Die sozialen und biographischen Merkmale sind unter besonderer Berücksichtigung der zeitlichen Konstanz der psychopathologischen Auffälligkeiten zu erheben. Es muß deutlich werden, ob und welche Angaben des Beschuldigten als Anknüpfungstatsachen zu Grunde gelegt wurden; insbesondere sind die gerichtlich noch zu überprüfenden Zusatztatsachen besonders hervorzuheben. Die Gutachtenerstattung in der Hauptverhandlung muss auf das dort gefundene Beweisergebnis - gegebenenfalls mit vom Gericht vorgegebenen Sachverhaltsvarianten - eingehen. Grundlage für die richterliche Urteilsfindung ist allein das in der Hauptverhandlung mündlich erstattete Gutachten. Der vorläufige Charakter des schriftlichen Gutachtens muss dem Sachverständigen und dem Gericht bewusst bleiben.
1. Diagnose und Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 StGB
Die psychiatrische Diagnose nach ICD-10 und DSM-IV-TR ist nicht mit einem Eingangsmerkmal des § 20 StGB gleichzusetzen. Ob der sachverständige Befund unter ein Eingangsmerkmal des § 20 StGB zu subsumieren ist, entscheidet nach sachverständiger Beratung der Richter.
2. Ausprägungsgrad der Störung
Mit der bloßen Feststellung, bei dem Beschuldigten liege eines der 4 Merkmale des § 20 StGB vor, ist die Frage, ob die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB vorliegen, noch nicht abschließend beantwortet. Dafür sind der Ausprägungsgrad der Störung und der Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit entscheidend. Die Beeinträchtigung der psychischen Funktionsfähigkeit durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster ist zu untersuchen. So ist bei die Tat überdauernden Störungen für die Bewertung der Schwere insbesondere maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des beschuldigten Deliktes zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist.
Der Richter hat die Anwendung der §§ 20, 21 StGB anhand der gesetzlichen Voraussetzungen und der daraus von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen zu entscheiden.
1. Auswirkungen auf die konkrete Tat
Für das Vorliegen der §§ 20, 21 StGB kommt es nicht darauf an, ob die Steuerungsfähigkeit generell aufgehoben oder rechtlich erheblich eingeschränkt ist. Maßgeblich kommt es vielmehr auf den Zustand bei Begehung der Tat an. Zur Beurteilung dieser Rechtsfrage überprüft der Tatrichter die vom Sachverständigen gestellte Diagnose, den Schweregrad der Störung und deren innere Beziehung zur Tat. Die Prüfung erfolgt auf der Grundlage des Beweisergebnisses der Hauptverhandlung. Tatvarianten hat der Richter mit dem Sachverständigen zu erörtern.
2. Erheblichkeit ist Rechtsfrage
Die Frage der Erheblichkeit i.S.d. § 21 StGB ist eine Rechtsfrage, die der Richter nach sachverständiger Beratung in eigener Verantwortung zu beantworten hat. Hierbei fließen normative Gesichtspunkte ein. Entscheidend sind die Anforderungen, die die Rechtsordnung an jedermann stellt. Diese Anforderungen sind um so höher, je schwerer wiegend das in Rede stehende Delikt ist.
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Für die revisionsgerichtliche Überprüfung der Schuldfähigkeitsbeurteilung gelten die bisherigen Prüfungsmaßstäbe. Insbesondere gilt weiter, dass ein forensischer Sachverständiger in eigener Verantwortung über die Heranziehung von Unterlagen, seine Untersuchungsmethoden und den Umfang seiner Erhebungen entscheidet.
Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe hat naturgemäß nur einen Ausschnitt der umfangreichen Problematik der Schuldfähigkeitsbeurteilung erörtern können. Sie hat nicht alle Störungsbilder der 4 Merkmale des § 20 StGB behandeln können. Sie hat den Schwerpunkt ihrer Beratungen auf das aktuell am häufigsten vorkommende und schwer zu beurteilende Störungsbild der schweren anderen seelischen Abartigkeit gelegt. Die Arbeitsgruppe hat sich darüber hinaus mit Beschuldigten mit Verdacht auf eine paraphil motivierte Sexualstraftat befasst, obwohl bei diesen Beschuldigten die gleichen Prinzipien und Methoden angewandt werden sollten wie bei allen anderen Tätergruppen. Die Erörterung dieser Deliktsgruppe erschien aber deshalb sinnvoll, weil die Beurteilung von Sexualstraftätern durch die Sachverständigen und die Entscheidungen der Gerichte in diesen Fällen von der Öffentlichkeit besonders verfolgt werden und Fehler in der Beurteilung schwerwiegende Konsequenzen haben können.
Wichtige verfahrensrechtliche Fragen wurden in der Arbeitsgruppe erörtert, aber nicht in die Empfehlungen aufgenommen, weil es hier meistens um schwierige Abgrenzungsfragen ging, deren Entscheidung dem Einzelfall vorbehalten bleiben muß: z.B. welche Erkenntnisse aus beigezogenen Akten früherer Verfahren verwertet werden dürfen; wie der Sachverständige mit vertraulich gemachten Angaben des Beschuldigten - z.B. in einer therapeutischen Situation im Rahmen einer Unterbringung nach § 126a StPO - umzugehen hat; welche vom Sachverständigen gefertigte Aufzeichnungen privat und welche als Bestandteil des Gutachtens anzusehen und damit für die Verfahrensbeteiligten zugänglich sind. Als derzeit nicht gelöst sieht die Arbeitsgruppe den Umgang mit Beschuldigten an, bei denen es unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB Hinweise auf ein erhöhtes Rückfallrisiko gibt. Dies ist bei gefährlichen Tätern der Fall, bei denen in vielen Fällen eine Maßregel der Besserung und Sicherung nicht angeordnet wird und dennoch eine Therapie im Regelvollzug in einer sozialtherapeutischen Anstalt nach § 9 StVollzG erfolgen soll. Häufig werden in diesen Fällen die Sachverständigen über die Angaben zur Schuldfähigkeit hinaus nicht zur Gefährlichkeitsprognose und zu den Behandlungsaussichten in der sozialtherapeutischen Anstalt befragt, obwohl sachverständige Angaben zu Therapiemöglichkeiten und deren Auswirkungen auf die Rückfallwahrscheinlichkeit sinnvoll sind, damit im Vollstreckungsverfahren schon früh die Weichen für eine adäquate Behandlung des Beschuldigten gestellt werden. Dies sollte über die Beachtung des § 246a StPO hinaus zum Standard jeder Hauptverhandlung gehören und sich im Strafurteil, das Grundlage für das Vollstreckungsverfahren ist, wieder finden.
Die Vorschläge zur Qualitätssicherung von psychiatrischen Schuldfähigkeitsgutachten sind in erster Linie ausgerichtet auf die Abfassung des schriftlichen Gutachtens. Dafür empfiehlt sich die Einhaltung einer relativ schematischen Struktur, nicht nur um wesentliche Punkte nicht zu übersehen, sondern auch, weil es dem Leser leichter fällt, das Gutachten zu erfassen, wenn er genau weiß, wo welche Informationen zu finden sind. Deshalb enthalten die Vorschläge sowohl formale Anforderungen an Aufbau, Gliederung und Umfang des Gutachtens als auch inhaltliche Aspekte wie die Verwendung kriterienorientierter Diagnosen entsprechend ICD-10 oder DSM-IV-TR.
Der Katalog ist ausgerichtet auf die Begutachtung aller Störungsbilder, die im Rahmen der Prüfung des Vorliegens der rechtlichen Voraussetzungen der §§ 20 und 21 StGB in Betracht kommen. Besonders hohe Anforderungen an die Qualität des Gutachtens müssen an die - in der Praxis wichtige - Begutachtung von Beschuldigten mit Verdacht auf Persönlichkeitsstörung oder Paraphilie im Zusammenhang mit der Schuldfähigkeitsbeurteilung bei Gewalt- und Sexualstraftaten gestellt werden. Die Arbeitsgruppe hat deshalb für solche Gutachten näher ausgeführte Vorschläge entwickelt. Die Arbeitsgruppe betont, dass die Beachtung von Mindestanforderungen das Studium von Lehrbüchern und die Auseinandersetzung mit der aktuellen wissenschaftlichen Literatur nicht ersetzt. Diese Auseinandersetzung ist zwangsläufig auch Bestandteil eines wissenschaftlich begründeten Gutachtens. Einigkeit bestand auch, dass der Bezug auf Klassifikationssysteme und Lehrbücher keiner Zitierung im Gutachten bedarf.
1.1. Nennung von Auftraggeber und Fragestellung
1.2. Darlegung von Ort, Zeit und Umfang der Untersuchung
1.3. Dokumentation der Aufklärung
1.4. Darlegung der Verwendung besonderer Untersuchungs- und Dokumentationsmethoden (z.B. Videoaufzeichnung, Tonbandaufzeichnung, Beobachtung durch anderes Personal, Einschaltung von Dolmetschern)
1.5. Exakte Angabe und getrennte Wiedergabe der Erkenntnisquellen
a) Akten
b) Subjektive Darstellung des Untersuchten
c) Beobachtung und Untersuchung
d) Zusätzlich durchgeführte Untersuchungen (z.B. bildgebende Verfahren, psychologische Zusatzuntersuchung)
1.6. Eindeutige Kenntlichmachung der interpretierenden und kommentierenden Äußerungen und deren Trennung von der Wiedergabe der Informationen und Befunde
1.7. Trennung von gesichertem medizinischen (psychiatrischen, psychopathologischen, psychologischen) Wissen und subjektiver Meinung oder Vermutungen des Gutachters
1.8. Offenlegung von Unklarheiten und Schwierigkeiten und den daraus abzuleitenden Konsequenzen, ggf. rechtzeitige Mitteilung an den Auftraggeber über weiteren Aufklärungsbedarf
1.9. Kenntlichmachung der Aufgaben- und Verantwortungsbereiche der beteiligten Gutachter und Mitarbeiter
1.10. Bei Verwendung wissenschaftlicher Literatur Beachtung der üblichen Zitierpraxis
1.11. Klare und übersichtliche Gliederung
1.12. Hinweis auf die Vorläufigkeit des schriftlichen Gutachtens.
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1.13. Vollständigkeit der Exploration, insbesondere zu den delikt- und diagnosenspezifischen Bereichen (z.B. ausführliche Sexualanamnese bei sexueller Devianz und Sexualdelikten, detaillierte Darlegung der Tatbegehung)
1.14. Benennung der Untersuchungsmethoden. Darstellung der Erkenntnisse, die mit den jeweiligen Methoden gewonnen wurden. Bei nicht allgemein üblichen Methoden oder Instrumenten: Erläuterung der Erkenntnismöglichkeiten und deren Grenzen
1.15. Diagnosen unter Bezug des zugrunde liegenden Diagnosesystems (i.d.R. ICD-10 oder DSM-IV-TR). Bei Abweichung von diesen Diagnosesystemen: Erläuterung, warum welches andere System verwendet wurde
1.16. Darlegung der differentialdiagnostischen Überlegungen
1.17. Darstellung der Funktionsbeeinträchtigungen, die im Allgemeinen durch die diagnostizierte Störung bedingt werden, soweit diese für die Gutachtensfrage relevant werden könnten
1.18. Überprüfung, ob und in welchem Ausmaß diese Funktionsbeeinträchtigungen bei dem Untersuchten bei Begehung der Tat vorlagen
1.19. Korrekte Zuordnung der psychiatrischen Diagnose zu den gesetzlichen Eingangsmerkmalen
1.20. Transparente Darstellung der Bewertung des Schweregrades der Störung
1.21. Tatrelevante Funktionsbeeinträchtigung unter Differenzierung zwischen Einsichts- und Steuerungsfähigkeiten
1.22. Darstellung von alternativen Beurteilungsmöglichkeiten.
Obwohl bei der Begutachtung von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen oder sexueller Devianz im Prinzip die gleichen methodischen Anforderungen wie bei anderen Störungen gestellt werden, hat sich die Arbeitsgruppe wegen der besonderen Abgrenzungsschwierigkeiten mit diesen beiden Störungsbildern besonders befasst. Eine Reihe der hier dargestellten Anforderungen finden als allgemeine Grundsätze bei allen Schuldfähigkeitsbegutachtungen analog Anwendung.
Es gehört zu einer sorgfältigen forensischen Begutachtung im psychiatrisch/psychotherapeutischen und psychologischen Bereich, dass diagnostisch auch auf die Persönlichkeit und eine eventuelle Persönlichkeitsstörung eingegangen wird. Die hier vorgelegten Anhaltspunkte sind immer dann heranzuziehen, wenn die Untersuchung Hinweise für akzentuierte Persönlichkeitsmerkmale und Auffälligkeiten ergibt, die unter dem Begriff der schweren anderen seelischen Abartigkeit zu fassen sind. Dies betrifft auch Gutachten bei Sexualstraftaten, da Störungen der psychosexuellen Entwicklung in der Mehrzahl der Fälle eng mit Persönlichkeitsauffälligkeiten verschränkt sind.
1. Sachgerechte Diagnostik
1.1. Das Gutachten sollte die Kriterien von ICD-10 oder DSM-IV-TR zur Diagnose einer Persönlichkeitsstörung berücksichtigen. Von besonderer Bedeutung ist die Beachtung der allgemeinen definierenden Merkmale von Persönlichkeitsstörungen in den beiden Klassifikationssystemen. Darüber hinaus ist in jedem Fall die Diagnose anhand der diagnostischen Kriterien der einzelnen Persönlichkeitsstörungen zu spezifizieren.
1.2. Da zum Konzept der Persönlichkeitsstörungen eine zeitliche Konstanz des Symptomenbildes mit einem überdauernden Muster von Auffälligkeiten in den Bereichen Affektivität, Kognition und zwischenmenschlichen Beziehungen gehört, kann eine zeitlich umschriebene Anpassungsstörung die Diagnose nicht begründen. Um die Konstanz des Symptombildes sachgerecht begründen zu können, darf sich das Gutachten nicht auf die Darstellung von Eckdaten beschränken, sondern muss die individuellen Interaktionsstile, die Reaktionsweisen unter konflikthaften Belastungen sowie Veränderungen in Folge von Reifungs- und Alterungsschritten oder eingeleiteter therapeutischer Maßnahmen darlegen. Da biographische Brüche oder Tendenzen zu stereotypen Verhaltensmustern bei Konflikten bzw. Stressoren für die Diagnosestellung von besonderer Bedeutung sind, bedürfen sie auch im Gutachten einer entsprechenden Hervorhebung.
1.3. Rezidivierende sozial deviante Verhaltensweisen müssen sorgfältig von psychopathologischen Merkmalen einer Persönlichkeitsstörung getrennt werden. Auswirkungen von Persönlichkeitsstörungen zeigen sich nicht nur im strafrechtlichen Kontext.
1.4. Die klinische Diagnose einer Persönlichkeitsstörung darf nicht per se mit dem juristischen Begriff der schweren anderen seelischen Abartigkeit gleichgesetzt werden.
2. Sachgerechte Beurteilung des Schweregrads
2.1. Stellungnahmen zum Schweregrad der diagnostizierten Persönlichkeitsstörung sollten getrennt werden von der Diskussion der Einsichtsbzw. Steuerungsfähigkeit, die eng mit der Analyse der Tatsituation verbunden ist.
2.2. Der Orientierungsrahmen anhand dessen der Schweregrad der Persönlichkeitsstörung eingeschätzt wird, muss jedem Gutachten entnommen werden können.
2.3. Nur wenn die durch die Persönlichkeitsstörung hervorgerufenen psychosozialen Leistungseinbußen mit den Defiziten vergleichbar sind, die im Gefolge forensisch relevanter krankhafter seelischer Verfassungen auftreten, kann von einer schweren anderen seelischen Abartigkeit gesprochen werden.
2.4. Gründe für die Einstufung einer Persönlichkeitsstörung als schwere andere seelische Abartigkeit können sein:
2.5. Gegen die Einstufung einer Persönlichkeitsstörung als schwere andere seelische Abartigkeit können sprechen:
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3. Psycho(patho)logisch-Normative Stufe Einsichts- und Steuerungsfähigkeit
3.1. Eine relevante Beeinträchtigung der Einsichtsfähigkeit allein durch die Symptome einer Persönlichkeitsstörung kommt in der Regel nicht in Betracht.
3.2. Selbst wenn eine schwere andere seelische Abartigkeit vorliegt, muss geprüft werden, ob ein Zusammenhang zwischen Tat und Persönlichkeitsstörung besteht. Hierbei ist zu klären, ob die Tat Symptomcharakter hat, also Ausdruck der unter 2.4 genannten Charakteristika einer schweren anderen seelischen Abartigkeit ist.
3.3. Die Beurteilung der Steuerungsfähigkeit erfordert eine detaillierte Analyse der Tatumstände (u.a. Verhalten vor, während und nach der Tat, Beziehung zwischen Täter und Opfer, handlungsleitende Motive).
3.4. Für forensisch relevante Beeinträchtigungen der Steuerungsfähigkeit sprechen über den vorgenannten Aspekt hinausgehend folgende Punkte:
3.5. Gegen eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit bei Persönlichkeitsstörungen, nicht aber notwendigerweise bei anderen Störungen (z.B. beim Wahnsyndrom sprechen Verhaltensweisen, aus denen sich Rückschlüsse auf die psychischen Funktionen herleiten lassen:
3.6. In der Regel kommt für den Bereich der schweren anderen seelischen Abartigkeit allenfalls eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit in Betracht.
1. Sachgerechte Diagnostik
1.1. Wegen häufiger Diskrepanzen zwischen subjektiven Schilderungen von Personen, die an Sexualdelikten beteiligt waren, ist eine sorgfältige Analyse der Akten und die explizite Darlegung von Anknüpfungstatsachen bei der Begutachtung von Sexualstraftätern von besonderer Bedeutung
1.2. Ausführliche Sexualanamnese: Hierzu gehören insbesondere Informationen zu folgenden Themenbereichen:
1.3. Diagnostische Einordnung paraphiler Neigungen/Paraphilie anhand der gängigen Klassifikationssysteme. Dabei ist die Diagnose mittels der diagnostischen Kriterien der einzelnen Paraphilien zu spezifizieren. Häufig sind verschiedene Paraphilien miteinander vergesellschaftet. Diese sind differenziert in ihren Anteilen an der gesamten Sexualstruktur zu beschreiben.
1.4. Gelegentlich ist eine Sexualstraftat die erste Manifestation einer Paraphilie. Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass folgende Aspekte für sich genommen nicht eine Paraphilie belegen:
2. Sachgerechte Beurteilung des Schweregrades
2.1. Bei der Beurteilung des Schweregrads gelten die unter D.I.2.1. und D.I.2.2. genannten allgemeinen Anforderungen (Trennung der Zuordnung zur schweren anderen seelischen Abartigkeit von der Diskussion über Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit sowie Angabe des Orientierungsrahmens für die Schweregradbeurteilung).
2.2. Zur sachverständigen Einordnung einer Paraphilie als schwere andere seelische Abartigkeit bedarf es der Prüfung
2.3. Daraus ergeben sich unter anderem folgende mögliche Gründe für die Einstufung einer Paraphilie als schwere andere seelische Abartigkeit:
Boetticher, Nedopil, Bosinski, Saß: Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten NStZ 2005 Heft 2 62
3. Psycho(patho)logisch-Normative Stufe: Einsichts- und Steuerungsfähigkeit
3.1. Zur Beeinträchtigung der Einsichtsfähigkeit sowie zum Zusammenhang zwischen der Paraphilie und der Tat gelten die Ausführungen zu den Persönlichkeitsstörungen (D.I. 3.3.1. bis 3.).
3.2. Eine forensisch relevante Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit kann bei Vorliegen folgender Aspekte diskutiert werden:
Die Ergebnisse der interdisziplinären Arbeitsgruppe haben die Teilnehmer ermutigt, auch Mindestanforderungen für die im Strafverfahren vielfältig verlangten Prognosegutachten zu beraten und zu formulieren. Diese Aufgabe soll im Verlauf des Jahres 2005 angegangen werden.
Wichtige Entscheidungen: Abgrenzung der Zuständigkeit Gericht - Sachverständiger: BGH Urt. v. 12. 2. 1998 - 1 StR 588/97, BGHSt 44, 26, 31f. = NStZ 1998, 422; Urt. v. 7. 7. 1999 - 1 StR 207/99, NStZ 1999, 630; schwere andere seelische Abartigkeit: BGH Urt. vom 4. 6. 1991 - 5 StR 122/91, BGHSt 37, 397; Beschl. v. 2. 12. 1997 - 4 StR 581/97, NStZ-RR 1998, 189; v. 6. 5. 1997 - 1 StR 17/97, NStZ 1997, 485; v. 2. 12. 1997 - 4 StR 581/97, NStZ-RR 1998, 189; v. 22. 8. 2001 - 1 StR 316/01, StV 2002, 17; und v. 22. 8. 2003 - 2 StR 267/03; Urt. v. 21. 1. 2004 - 1 StR 346/03, NStZ 2004, 437; Borderline: BGH Beschl. v. 6. 2. 1997 - 4 StR 672/96, BGHSt 42, 385 = NStZ 1997, 278; 4 StR 100/97; Urt. v. 22. 1. 1998 - 4 StR 100/97, NStZ 1998, 366. Psychose: BGH Beschl. v. 9. 4. 2002 - 5 StR 100/02 - NStZ-RR 2002, 202. Affekt: BGH Urt. v. 14. 12. 2000 - 4 StR 375/00, StV 2001, 228. Alkohol: BGH Urt. v. 29. 4. 1997 - 1 StR 511/95 - BGHSt 43, 66 = NJW 1997, 2460; v. 27. 3. 2003 - 3 StR 435/02 - NStZ 2003, 480; und v. 17. 8. 2004 - 5 StR 93/04, StV 2004, 591.
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